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Titel
Kulturkontakt im Frühmittelalter. Das ostfränkische Reich 936–973 in globalhistorischer Perspektive


Autor(en)
Meller, Philipp
Reihe
Europa im Mittelalter (40)
Erschienen
Berlin 2021: de Gruyter
Anzahl Seiten
414 S.
Preis
€ 99,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Daniel Schumacher, Historisches Seminar, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

Wie war das Ostfranken Ottos I. (936–973) mit der Welt, oder zumindest innerhalb des euro-mediterranen Raums vernetzt? Diese globalgeschichtliche Fragestellung rahmt die von Michael Borgolte betreute Dissertation Philipp Mellers. Zur Beantwortung wird die Analyse von Kontakträumen und -situationen vorgeschlagen, sodass die globalgeschichtliche Perspektive in eine von der Beziehungsgeschichte, Verflechtungsgeschichte und Transferforschung adaptierte Methodik überführt wird (S. 1–42): Das zu beleuchtende, titelgebende Phänomen des Kulturkontakts wird unter Anderem in Anlehnung an Bentley, Borgolte, Drews und Schlieben als Untersuchung von transkulturellen Interaktionen und ihren Auswirkungen, das heißt auch ihrer Überlieferung erfasst. „Kulturkontakt“ wird dabei als Fremdheitserfahrung verstanden, wobei geographische Distanz und religiöse Unterschiede ausschlaggebend wären, sodass sich Meller auf Begegnungen außerhalb des griechisch-lateinischen Kulturraums beschränkt. Nachdem zwei Überblickskapitel die globalen und europäischen Entwicklungen (S. 43–95), sowie den Forschungsstand zu Dynamik und Mobilität im 10. Jahrhundert (S. 97–108) – also die Bandbreite aller möglichen Teilaspekte des Themenfelds – subsummieren, werden die Lebenswelten der Mönche, (S. 109–144), der Händler (S. 145–174) und des Königs (S. 175–210) analysiert.

Die Darstellung beginnt mit einer Skizze der „Ostfränkische[n] Außenbeziehungen 936–973“ im Kontext des politischen Ereignisverlaufs, die dem gleichzeitigen Weltgeschehen gegenübergestellt werden (S. 43–57). Obwohl sich Meller später auf pagane- und muslimische Kulturkontakte beschränkt, integriert der folgende Teil sinnvoller Weise die Kontakte im „lateinisch-griechische[n] Europa“ (S. 57–63), (d.h. nach Byzanz), bevor „grenzübergreifende Beziehungen“ ins slawische Ostmitteleuropa, zu den Kiewer Rus, Ungarn, nach Skandinavien sowie nach Al-Andalus und Fraxinetum (Provence) überlickshaft zusammengefasst werden. Folgerichtig bilanziert Meller aus globaler Sicht eine Peripheriesituation Ostfrankens innerhalb Europas, dem „äußersten Rand Afro-Asiens“ (S. 57). Dies schließe überregionale Verflechtungen aber nicht aus, sondern lenke den Blick auf deren mögliche Akteure. Eine einheitliche ottonische, imperiale „Außenpolitik“ sei aber nicht erkennbar – höchstens ein pragmatisches System der An- und Einbindung der östlich-benachbarten slawischen Gruppenverbände. Die kurzen, geographisch geordneten Überblickskapitel vermitteln zugleich das notwendige Hintergrundwissen für die drei folgenden Teilstudien: Nicht nur die Grundlagen von Ottos Königtum, sondern auch die des frühmittelalterlichen Handels oder der Kirchenstrukturen werden behandelt.

Nach allgemeinen Darlegungen zu individuellen und kollektiven Mobilitätschancen und -zwängen im Frühmittelalter, wird das Konzept der „Lebenswelt“ (Fichtenau) vorsichtig als Analysewerkzeug eingeführt (S. 97–108). Quasi als Milieustudien werden die verschiedenen Lebenswelten zuerst nach ihrer sozialen Kohäsion, sowie entsprechend der Mobilität und Reichweite ihrer Angehörigen charakterisiert, um Erklärungsansätze für den Verlauf und die Auswirkungen überlieferter Kulturkontakte zu eröffnen. Aus dem Konzept resultiert eine gewinnbringende Eigenschaft der nachfolgenden Darstellung: Funktionale Zuschreibungen, wie „Bote“, „Händler“ oder „Gesandter“, werden deskriptiv und weniger definitorisch genutzt, sodass die Rollen der „Mobilitätsträger“ situativ verstanden und in ihrer Fluidität beschrieben werden.

Wenig überraschend war die „Welt der Mönche“ durch eine hohe soziale Kohäsion geprägt (S. 109–144). Entgegen dem Ideal der stabilitas loci entfalteten einzelne Mönche oder Nonnen einen bemerkenswerten Bewegungsradius, wie das Beispiel des missionarisch wirkenden Bischofs Boso von Merseburg illustriert. Meller beobachtet ferner eine „stationäre“ Wirkung ostfränkischer Missionszentren, wie von St. Emmeram (Regensburg), indem dort slawische Sprachkenntnisse gesammelt und slawische Fürstenkinder ausgebildet wurden. Eine Fallstudie beleuchtet die Cordoba-Gesandtschaft Johannes‘ von Gorze (953) ausführlicher und eine andere die Überlieferung von ungarischen, bzw. arabischen Überfällen. In beiden Fällen tritt ein auffälliges Desinteresse der Akteure, (bzw. der monastischen Historiographen) an den Ereignissen selbst hervor. Stattdessen wurden die Geschehnisse heilsgeschichtlich und normativ zur monastischen Selbstvergewisserung genutzt. Obwohl die Klöster im Kontext der Mission einen souveränen und nicht zu unterschätzenden Umgang mit Mobilität pflegten, formte die geschlossene monastische Lebenswelt die narrativen Deutungsmöglichkeiten transkultureller Begegnungen.

Anders offenbart sich hingegen die „Welt der Händler“ (S. 145–174): Zwar scheinen die Kaufleute als soziale Gruppe laut Meller nur locker organisiert, allerdings demonstriert sich ihre Erfahrung als „Experten der Fremde“ (Borgolte) in der Indienstnahme durch politische Akteure, wie zwei Fallstudien zu den Begleitern bzw. Boten der erwähnten Cordoba-Gesandtschaft (Dudo von Verdun, Ermernhard) und zum jüdischen Fernhändler bzw. Kalifengesandten Yitzhak ben Eliezer illustrieren (den Meller als ostfränkischen, möglicherweise Regensburger Händler identifiziert). Die Untersuchung der Sozialstruktur der Handelssiedlung Haithabu (heut. Schleswig-Holstein) bezieht auch archäologische Forschungsergebnisse ein, wodurch sich laut Meller das Bild „einer Art hybriden Lokalbevölkerung“ ergäbe (S. 174).

Obwohl durch eine strenge Hierarchie und Rangordnung organisiert, stellt Meller für den mobilen Königshof mit seiner stets wechselnden personellen Zusammensetzung ebenfalls nur eine begrenzte soziale Kohäsion fest (S. 175–210). Die Präsenz Ottos im Krieg gegen Slawen und Ungarn, aber auch die politische Nutzung von Geiseln slawischer Fürstenfamilien sowie deren langfristige An- und Einbindung als spätere Machthaber und Bündnispartner verweisen auf eine pragmatische Politikgestaltung. Bei Fernkontakten, bspw. nach Kiew oder Cordoba, hätte der ottonische Hof jedoch nicht souverän agieren können. Eine Detailstudie zum „Hoftag von Quedlinburg“ illustriert vor allem die repräsentative Funktion von Gesandtschaften im Kaiserumfeld als Inszenierung von Prestige, Macht und dem Universalherrschaftsanspruch. Ihre historiographische Bedeutung scheint damit ihre politische zu übersteigen.

Nach dem Hauptteil beginnt die Regestensammlung (S. 219–317), welche in 98 Einträgen die ostfränkischen Kulturkontakte in den skandinavischen, slawischen und muslimischen Raum übersichtlich präsentiert: In der Inhaltszusammenfassung und dem Kommentar wurden Quellenzitate und Forschungsliteratur einbezogen. Bemerkenswerterweise ist diese Zusammenstellung auch über den Index hervorragend für Nutzer*innen erschlossen worden. Sechs Abbildungen, darunter drei Karten, unterstützen die Darstellung ebenfalls.

Summa summarum gelingt es Meller in seiner Dissertation „Kulturkontakt im Frühmittelalter“ die sehr unterschiedlichen Einzelfälle transkultureller Interaktionen unter einer globalhistorischen Fragestellung zusammenzuführen und systematisch als Phänomen zu interpretieren. Die Untersuchung der drei „Lebenswelten“ wirkt daher zunächst vereinfachend; als heuristisches Instrument eröffnet dieses Modell jedoch eine komparatistische und synthetisierende Analyse der unterschiedlichen Handlungs- und Wahrnehmungsspielräume. Naheliegenderweise war eine zeitliche und räumliche Eingrenzung notwendig, die en passant mit der Festlegung auf das Ostfranken Ottos I. zur Hinterfragung bestehender Geschichtsbilder genutzt wurde. Transparent werden zudem potentielle Forschungsthemen aufgezeigt, bspw. im Kloster-Kapitel bzgl. der Reliquienkulte, Pilgerfahrten und persönlicher Netzwerke von Gelehrten oder Klerikern.

Wünschenswert wäre eine Impulswirkung für die historisch-archäologische Interdisziplinarität, z.B. im kritischen Diskurs der (ethnischen), kulturellen und religiösen Interpretierbarkeit von „Grabbeigaben“. Zerfällt im Frühmittelalter die offen verfasste „Welt der Kaufleute“, nicht vielleicht in kleinere, klarer definierte Welten, wie im Fall der Juden? Zum Bild vom jüdischen Fernhändler könnte mit Verweis auf Johannes Heil gefragt werden, ob im Diaspora-Judentum gereist wurde, um zu handeln, oder nicht umgekehrt gehandelt wurde, um zu reisen.1 Naturgemäß stellen diese, teils von Meller selbst erwähnten Punkte keine zu kritisierenden Leerstellen dar, sondern zeigen stattdessen die Anschlussfähigkeit der Studie für die künftige Forschung. Ein praxisbezogener Mehrwert ergibt sich aus ihrer sorgfältigen Konzeption: Während die Darstellung durch eine zugängliche Argumentation entlang weniger Beispiele besticht, verbreitert und vertieft der Fußnotenapparat die Auswertung enorm durch den Einbezug der anderen, in den Regesten zusammengefassten Kulturkontakte. Lesende Dozent:innen ertappen sich dabei, Beispiele dort nachzuschlagen, potentielle Vergleichsfälle aus dem westfränkischen, burgundischen, italienischen oder byzantinischen Raum früherer oder späterer Zeit zu suchen und die Einordnung, Übertragbarkeit oder Überprüfung von Mellers Entwurf als Referats- oder Hausarbeitsthemen abzuwägen. Das Hauptergebnis der Dissertation überzeugt: Trotz der weltgeschichtlichen „Randlage“ Ostfrankens bildete die „grenzübergreifende Erfahrung keine Randerscheinung […], sondern [war] konstitutiver Teil des sozialen Zusammenlebens.“ (S. 210).

Anmerkung:
1 Johannes Heil, Zwischen Nutzen und Erniedrigung. Die Juden in der Karolingerzeit, in: Barbara Segelken (Hrsg.), Kaiser und Kalifen. Karl der große und die Mächte am Mittelmeer um 800, Darmstadt 2014, S. 38–49, hier S. 39.

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